Will man beim sukzessiven Sichten der gesicherten Bestände einer ausrangierten Bibliothek rare oder unikale Werke aufspüren, kommt man nicht umhin, jedes einzelne Buch in die Hand zu nehmen und mit den einschlägigen Verbundkatalogen zu prüfen, ob und wie selten ein Werk in hiesigen Bibliotheken vorhanden ist. Dabei kommt es dann ab und zu vor, dass sich ein auf den ersten Blick nicht als seltenes Stück anmutendes Buch als ziemliche Seltenheit herausstellt. Solch ein Buch ist die in der ehemaligen DVW-Bibliothek gleich doppelt vorhandene „Anleitung zur Berechnung der rechtwinkligen sphärischen Coordinaten und Dreieckspunkte, sowie der Dreiecksseiten und ihrer Richtungen aus den gegebenen geographischen Breiten und Längen der Dreieckspunkte mit besonderer Berücksichtigung der trigonometrischen Landesaufnahme des vormaligen Kurfürstenthums Hessen als Grundlage für Gemarkungs-, Forst- und dergleichen Vermessungen“ von Dr. Otto Börsch, 1868 im Kasseler Verlag Württenberger erschienen.
Die Suche mit dem Karlsruher Virtuellen Katalog liefert hier nur zwei Katalogeinträge, einmal im K10plus Verbundkatalog und einmal in Harvard. Der Eintrag auf K10plus umfasst ein Exemplar an der Universitätsbibliothek der TU Braunschweig und ein zweites Exemplar an der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena. Für die Staatsbibliothek zu Berlin ist ein Kriegsverlust ausgewiesen. Das Exemplar der Harvard University ist auf Hathi Trust bzw. Google Books frei verfügbar; dank Digitalisierung also trotz physischer Seltenheit keine wirkliche Rarität mehr.
Ein Blick in die bibliothekarischen Normdaten zum Autor, für den es bislang keinen Wikipedia-Eintrag o. dgl. gibt, fördert nun gleich vier unterschiedliche Einträge für ein und dieselbe Person zu Tage:
- GND 116225130 als „Gewerbeschullehrer“ in Kassel um 1861-1863 (1995 angelegt)
- GND 117628182 als „Geodät“ mit den Lebensdaten 1817 bis 1890 und den Wirkungsorten Kassel und Berlin (1996 angelegt)
- GND 172006929 als „Lehrer der Geodäsie“ (2011 angelegt)
- GND 1157481086 als Verfasser von „Theodolite, astronomische Instrumente und Bussolen-Apparate des math.- mech. Institutes von F. W. Breithaupt & Sohn“, Kassel 1876 (2018 angelegt)
Dass alle vier Normdatensätze wirklich ein und dieselbe Person beschreiben, zeigen die dem Findbucheintrag des Stadtarchivs Kassel (StadtA KS, C 103) zum Nachlass beigegebenen biografischen Angaben:
"Otto Börsch (*05. September 1817 in Marburg; †21. Juli 1890 in Berlin) war Mathematiker und Geodät; Sohn des Professors [Friedrich] August Börsch (*09.04.1781 in Eckartsberga; †20.07.1844 in Kassel) und dessen Frau Wilhelmine, geb. Fay (*06.05.1788 in Altenhaßlau; †28.10.1830 in Marburg); der Vater hatte 1812-15 und 1833-42 eine Professorenstelle am Hanauer Gymnasium inne, so dass Otto Börsch einen Großteil seiner Jugend in Hanau verbrachte; Besuch des Gymnasiums in Hanau; 1838-44 Studium der Mathematik und der Naturwissenschaften in Marburg (Prof. Dr. Christian Ludwig Gerling hatte hier einen besonderen Einfluss auf ihn); Studienabschluss mit Staatsexamen; Oktober 1844 – März 1845 Praktikant für Mathematik und Naturwissenschaften am Gymnasium Kassel; im März 1845 beurlaubt und später auf eigenen Wunsch entlassen; ab 03. November 1845 als Trigonometer bei der kurhessischen Landesaufnahme in Kassel tätig (bis 01.05.1854); 12.04.1851 Heirat mit Josepha Therese Aloyse, geb. Dittmar; ab 11. Mai 1860 Trigonometer in Gelnhausen; später Dozent für Geodäsie und Elementarmathematik an der höheren Gewerbeschule (Polytechnische Schule) Kassel (bis zum 01.10.1870); ab 1862 war er in Kassel maßgeblich an der von Johann Jacob Baeyer (Berlin) durchgeführten europäischen Gradmessung beteiligt; 1863 wurde er in Marburg mit der Arbeit „Bestimmung der Genauigkeit von Winkel- und Linien-Messungen aus Beobachtungen abgeleitet“ promoviert; 1868 erschien seine Arbeit „Anleitung zur Berechnung der rechtwinkligen sphärischen Coordinaten und Dreieckspunkte (…)“ (Kassel: Württenberger); 1868 erhielt er eine Berufung nach Berlin als Mitglied des preußischen geodätischen Institutes; 1869 erschien „Tafeln für geodätische Berechnungen zwischen den geographischen Breiten von 35° und 71° (…)“ (Kassel: Waisenhaus-Druckerei); ab 1871 an der Gewerbe-Akademie in Berlin tätig; 1873 Ernennung zum Sektionschef am Kgl. Preußischen Geodätischen Instituts."
Der 13 Einheiten umfassende Bestand StadtA KS, C 103, zu dem diese biografische Beschreibung gehört, wurde vom Stadtarchiv Kassel 2018 aus dem Antiquariatshandel erworben. Dabei scheint es sich allerdings nicht um den vollständigen Nachlass gehandelt zu haben. Denn einzelne Otto Börsch zuzuordnende Stücke sind noch im Autographenhandel erhältlich, und zwar ein dreiseitiger Brief vom 30. Juni 1849, mit dem er bei seinem zukünftigen Schwiegervater um die Hand von dessen Tochter Josephine anhielt (Abb.) sowie vier Studientestate von 1839 und 1840, in denen Prof. Christian Ludwig Gerling den Besuch seiner Vorlesungen über über Physik, Analysis, Geometrie, Integralrechnung und Geographie bescheinigt (Abb.).
„Seinem hochvererhrten Lehrer“ Prof. Dr. Gerling hat Otto Börsch schließlich auch seine Dissertation „in Liebe und Dankbarkeit“ gewidmet. Umgekehrt wird Otto Börsch von Carl Reinhertz im Aufsatz über Christian Ludwig Gerling’s geodätische Thätigkeit in der ZfV 1901, S. 4 als bedeutendster geodätischer Schüler Gerlings bezeichnet. Und Zum 150. Todestag von Christian Ludwig Gerling gedenkt Bernhard Heckmann nicht nur jenes bedeutenden Geodäten, sondern zugleich auch dessen Schülers Otto Börsch. Zuletzt ist noch in den DVW-Mitteilungen Hessen-Thüringen Heft 1/2021, S. 22-41 etwas mehr zu Otto Börschs geodätischen Arbeiten zum Anschluss der Grafschaft Schaumburg an „Kurhessens nördliche Triangulationsnetze I. Ordnung“ um 1853 zu erfahren. Börsch wird hier in den Kapiteln 2, 4 und 7 besonders genannt.
Seine eingangs genannte Anleitung zur Koordinatenberechnung von 1868 aus dem Bestand der ehemaligen DVW-Bibiothek geht nunmehr zur Ergänzung des Nachlasses ans Stadtarchiv Kassel, das zweite Exemplar nach Berlin an die Staatsbibliothek zum Ersatz des Kriegsverlusts.